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Wie Lineartechnik zur Erforschung von Flüssen beiträgt
08.04.2024 | Von Thomson Neff Industries (veröffentlicht in der Konstruktionspraxis)
Die Uni Stuttgart nutzt 20 Meter lange Lineareinheiten für eine einzigartigen Versuchsaufbau, bei dem physikalische Vorgänge im Flussbett modelliert werden. Diese Sedimentstudie soll die Renaturierung von Flüssen und Ufergebieten unterstützen.
Das Schweizer Bundesamt für Umwelt (BAFU) will die natürlichen Funktionen von Flüssen wiederherstellen, die durch Baumaßnahmen beeinträchtigt wurden. Im Rahmen einer Renaturierungs-Initiative wandt sich das BAFU an das Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung (IWS) der Universität Stuttgart. Es beauftragte das IWS, einen physikalischen Modellversuch durchzuführen, um Erkenntnisse über hydromorphologische Prozesse im Flussbett zu gewinnen.
Im Modellaufbau bewegt ein Paar riemengetriebener Lineareinheiten ein Portal, das mit Sensoren bestückt ist. Das Portal bewegt sich über ein 20 m langes Flussbett mit Sedimenten definierter Körnung. Damit werden hydromorphologische Veränderungen unter verschiedenen hydrologischen und geometrischen Bedingungen untersucht. Für das Forschungsprojekt ist eine besonders gleichmäßige, unterbrechungsfreie Bewegung über diese rekordverdächtige Länge hinweg nötig. In Zusammenarbeit mit dem Linearsystem-Hersteller Thomson Industries und dem Automatisierungsexperten König Lineartechnik setzte das IWS diese Anforderungen um.
Gründe für die Renaturierung der Flüsse
Die Notwendigkeit der Sedimentstudie geht auf eine Zeit vor mehr als einem Jahrhundert zurück, als die Menschen begannen, sich an Flüssen anzusiedeln und zum großen Teil Landwirtschaft zu betreiben. Damals wurden Flussläufe modifiziert, um Überschwemmungen zu verhindern und zugleich neue Anbauflächen zu gewinnen. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurden immer größere Dämme gebaut, um Wasser aufzustauen und damit elektrische Energie zu erzeugen.
Mittlerweile wissen Umweltforscher jedoch deutlich mehr über die Ökosysteme von Flüssen und haben festgestellt, dass Maßnahmen wie Uferbefestigungen, der Bau von Staudämmen und Flussbegradigungen nicht notwendigerweise vor Überschwemmungen schützen, aber in der Folge natürliche Lebensräume zerstören und oft ein monotones Gerinne hinterlassen. In der Hoffnung, diese Veränderungen rückgängig machen zu können, verfolgt die Gewässerschutzpolitik der Schweiz das Ziel, die Ökosysteme der Flüsse und deren natürliche Funktionen wiederherzustellen. Eine Voraussetzung dafür ist, die physikalischen Grundlagen und Prozesse der fluvialen Morphodynamik zu verstehen und dieses Wissen gezielt einzusetzen.
Warum ist Sediment wichtig für die Renaturierung?
Sediment spielt bei der Bildung der physikalischen Strukturen eines Flusses – und damit auch seiner Ökologie – eine entscheidende Rolle. Es trägt zur Entstehung verschiedener Flusslebensräume bei, kann aber auch Überschwemmungen beeinflussen. Darüber hinaus wirkt sich Sediment mit den zugehörigen Nährstoffen auf die Wasserqualität und das Leben im Wasser aus, während es verschiedene flussabwärts und -aufwärts gelegene Bereiche miteinander verbindet.
„Um Fließgewässer in einen naturnahen Zustand zurückzuversetzen, ist ausreichend Sediment erforderlich. Unsere Aufgabe ist es, zu bestimmen, wie viel Sediment bzw. Geschiebefracht für bestimmte hydrologische und geometrische Randbedingungen erforderlich ist. Das ist eine echte Herausforderung, da wir es mit einem extrem dynamischen System zu tun haben, in dem sich das Flussbett ständig verändert – sei es durch Sohl- und Ufererosion oder Ablagerungen im Gerinne“, erklärt Dr. Stefan Haun, Leiter der Versuchsanstalt für Wasserbau am IWS.
Versuchsaufbau: So untersucht das Forschungsteam die Flussbett-Dynamik
Um die Dynamik eines Flussbetts zu modellieren, kombinierten Dr. Haun und sein Team ihre eigenen Erfahrungen bei der Wasser- und Umweltsystemmodellierung mit den Ergebnissen verfügbarer Literatur zu hydromorphologischen Systemen sowie der Betrachtung anderer Projekte. Sie kamen zu dem Schluss, dass nur ein im großen Maßstab angelegtes Versuchsmodell die Möglichkeit bot, das Flussbett vor, während und nach eines Hochwasserereignisses erfolgsversprechend zu untersuchen.
Aufgrund der gebirgigen Schweizer Landschaft sind dort vorwiegend sehr grobe Sedimentkörnungen vorzufinden – üblicherweise im Bereich von 50 bis 120 mm. Daher benötigten die Forscherinnen und Forscher ein Modell mit einer Abmessung von 20,4 m Länge und 4,5 m Breite. Es ist das größte Modell, das bislang in dem Labor gebaut wurde. So konnte natürliches Sediment als Sohlmaterial mit einem skalierten mittleren Korndurchmesser von 5 mm verwendet werden. Die Zugabe des Geschiebes erfolgt mit einer in der Schweiz hergestellten, hochpräzisen Sedimentzugabeeinrichtung. Um Veränderungen im Flussbett und an den Wasserspiegellagen mit einer hohen räumlichen Auflösung zu beobachten, montierte das Team auf einem verfahrbaren Portal, das die 4,5 m Breite des Flussbetts überspannte, 14 Ultraschallsensoren für Punktmessungen sowie einen Laserscanner mit einer Messauflösung von 2 mm bis 3 mm für größere räumliche Bereiche. Um diese Aufnahmeeinheit entlang des simulierten Flussbetts zu bewegen, sind zwei Thomson-Lineareinheiten mittels Kardanwelle miteinander verbunden und werden synchron von einem Schrittmotor angetrieben.
Das Portal muss nicht besonders schnell verfahren; vielmehr kommt es auf eine sehr gleichmäßige, ununterbrochene Bewegung an. Das bedeutete, dass jede der beiden in zwei Teilen gelieferten Lineareinheiten zu einer durchgängigen, spielfreien Einheit zusammengefügt werden musste, um die benötigte Präzisionsbewegung zu erzeugen. Es gab jedoch ein Problem: Kein Linearsystemanbieter hatte eine Lineareinheit im Programm, die 20 m Länge überwinden kann.
Lineareinheit mit Überlänge ist erforderlich
Die Suche nach ausreichend langen Lineareinheiten für dieses Szenario begann und endete bei Thomson. „Es war ein glücklicher Zufall, dass uns auf einigen der im Labor der Karlsruher Bundesanstalt für Wasserbau eingesetzten Lineareinheiten ein Aufkleber des Thomson-Vertriebspartners König Lineartechnik aufgefallen war“, erinnert sich Elektrotechniker Steffen Hägele. „Als wir uns mit dem Geschäftsführer Heinz König in Verbindung setzten, erfuhren wir zunächst, dass es kein derart langes Standardprodukt geben würde. Er wollte aber mit der Engineering-Abteilung von Thomson die Möglichkeit prüfen, für dieses Projekt eine Lineareinheit in Sonderausführung zu bauen. Da dies für uns eine große Anschaffung bedeutete, haben wir gemäß den Universitätsrichtlinien weitere Angebote eingeholt. Wir konnten aber nur einen anderen Hersteller finden, der sich in der Lage sah, eine derart lange Lineareinheit herzustellen – allerdings zu einem Preis weit jenseits unseres Budgets für dieses Projekt.“
„Angesichts der erforderlichen großen Länge war die riemengetriebene Thomson-Lineareinheit (Movopart MG07B) für uns die perfekte Wahl. Wenngleich nicht ganz einfach zu realisieren, haben wir einen sicheren und kosteneffizienten Transport vom schwedischen Produktionswerk nach Deutschland organisiert und vor Ort die Einheiten durchgehend und spielfrei montiert“, ergänzt Heinz König.
So wurde die Sonderlösung konfiguriert
Die Thomson-Sonderlösung basiert auf den Movopart-Lineareinheiten, die mit Unterstützung des Engineering-Teams auf die anwendungstechnischen Anforderungen und das verfügbare Forschungsbudget angepasst wurden. Beispielsweise sind die Movopart-Einheiten wahlweise mit Gleit- oder Kugellagerführung erhältlich. Das Team entschied sich für kostengünstigere Gleitlager, deren Genauigkeitsklasse für diese Transportanwendung ausreicht. Darüber hinaus sind Gleitlager besser gegen Staub und Feuchtigkeit geschützt. Ebenso können die Movopart-Einheiten entweder mit Riemen- oder mit Kugelgewindetrieb ausgestattet werden. Auch hier wählte das Team die wirtschaftlichere Variante mit Riemenantrieb, da der Betrieb des Portals keine schnellen Stopps und Starts erfordern würde.
Die endgültige Wahl fiel auf eine extralange Ausführung der riemengetriebenen Lineareinheit Movopart MG-B, die geringe Lasten bei mittleren Verfahrgeschwindigkeiten und minimaler Reibung bewegt. Die beiden 20,4 m langen Einheiten flankieren die rechte und linke Begrenzung des physikalischen Modells. Sie führen das sensorbestückte Portal darüber.
Scan des Flussbetts mit Ultraschall und Laser
Am Ende jeder Versuchsreihe startet ein Bediener das System manuell, um das Portal entlang des Modells in Bewegung zu setzen. Währenddessen lassen die Ultraschallsensoren Schallwellen von der Oberfläche reflektieren, was Aufschluss über die Wasserspiegellagen an den verschiedenen Stellen im Modell gibt. Nachdem das Wasser abgelassen ist, erfolgt ein zweiter Scan, der weitere Daten über das Flussbett liefert. Anhand dieser Datensätze kann das Forschungsteam die Wassertiefen und die Veränderungen der Gerinneform bewerten, indem es die Datensätze aus den vorherigen Tagen zum Vergleich heranzieht.
Für ein vollständiges digitales Abbild der Gewässerdynamik ist jedoch eine höhere räumliche Auflösung des Flussbetts erforderlich, die einzig mit dem Laserscanner möglich ist. Der Laserscanner liefert nicht nur einzelne Punkte, sondern arbeitet wie eine Kamera und erzeugt ein hochauflösendes digitales Bild des gesamten gescannten Bereichs. So erhalten die Forscher die benötigten Datenpunkte, um die Veränderungen der Sohltopographie digital zu triangulieren. Das Ergebnis ist ein hochauflösendes Modell der gesamten Oberfläche mit rund zwanzig Millionen Datenpunkten, auf dessen Basis das Team morphologische Strukturen analysieren und vergleichen kann – beispielsweise Volumenänderungen in bestimmten Bereichen des Modells, Ufererosion oder Sedimentablagerungen.
Von links: Steffen Hägele, Elektrotechniker der Uni Stuttgart, Gerhard Schmid, technisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter der Uni Stuttgart, Fatih Guel, Vertriebsingenieur bei Thomson, Dr. Stefan Haun, Leiter der Versuchsanstalt für Wasserbau der Uni Stuttgart und Heinz König, Geschäftsführer bei König Lineartechnik.
(Bild: Bojan Skodic, Universität Stuttgart)
Fazit zum Forschungsprojekt und der Lineartechnik
Das ursprüngliche Konzept der Studie umfasste die Langzeit-Modellierung der hydromorphologischen Veränderungen des Flussbetts bei unterschiedlichen Längsgefällen. Die Datenerfassung funktionierte jedoch so gut, dass viele weitere Erkenntnisse über das Systemverhalten gewonnen wurden. Teresa Schnellbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung, wird die Ergebnisse demnächst veröffentlichen und die gewonnenen Erkenntnisse außerdem für ihre Doktorarbeit nutzen.
„Unsere Entscheidung, bei diesem Projekt mit König Lineartechnik zusammenzuarbeiten, erweist sich als echter Glücksfall. Die Thomson-Lineareinheiten tun genau das, was sie tun sollen. Sie bilden die Voraussetzung für gleichmäßige, zuverlässige Scans, sodass wir in unserer Analysesoftware mit hochpräzisen Daten arbeiten können. Aber wir haben bereits einige Ideen, wie wir die Einheiten auch zukünftig nutzen können – beispielsweise um Messvorgänge zu automatisieren, größere Lasten schneller zu bewegen und aus der Ferne zu steuern“, erklärt Gerhard Schmid, technisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt.
In der näheren Zukunft wird das Stuttgarter Forschungsteam mit seinen Lineareinheiten jedoch voll und ganz mit der Datenerfassung und -analyse für dieses Projekt beschäftigt sein. Somit erhält das Schweizer Bundesamt für Umwelt eine immer genauere Abbildung der Vorgänge, die sich in ihren Flüssen abspielen. (dm)